Versmold. Neben den vielen traditionellen Gedenkveranstaltungen zum Volkstrauertag setzen manche Kommunen auch neue Formate um. In Versmold im Kreis Gütersloh ging eine klassische Gedenkveranstaltung in eine 24-stündige Lesung für die Demokratie über. Lesen Sie dazu den folgenden Bericht des Stadtarchivars Dr. Rolf Westheider.
„Mit seinem Buch ‘Versmold in der Zeit des Nationalsozialismus 1933 – 1945’ hat der frühere Versmolder Stadtarchivar Dr. Richard Sautmann der ganzen Versmolder Bürgerschaft ein großes Vermächtnis hinterlassen, das mit einem 24-stündigen Lesemarathon für die Demokratie einen vorläufigen Höhepunkt erfuhr. Die Lesung begann nach dem diesjährigen Volkstrauertagsgedenken im Friedenspark. Das Buch wurde von 76 Leserinnen und Lesern insgesamt sechsmal nacheinander komplett vorgelesen. Mit diesem denkwürdigen Ereignis soll das Buch eine dauerhafte Mahnung sein, von der Hoffnung getragen, dass Demokratie, Frieden und Freiheit sich auch künftig durchsetzen werden.
Seit seinem Erscheinen Anfang September hat die Geschichte des Nationalsozialismus in Versmold nicht nur eine große Verbreitung gefunden – das Buch ist fast vergriffen. Es hat bei den Leserinnen und Lesern auch eine durchaus schmerzliche historische Selbstvergewisserung und damit tiefe Spuren der Nachdenklichkeit hinterlassen. Erst Anfang März begannen die Vorarbeiten, um eine ins Jahr 2007 zurückreichende Artikelserie zu diesem Thema in Buchform zu bringen. Auslöser für den Autor war die von 1.300 Menschen besuchte ‘Demonstration für Demokratie’ am 31. Januar 2024.
Im Mittelpunkt der Ansprachen zum Volkstrauertag standen zunächst die Ereignisse des Jahres 1944, also vor 80 Jahren. Bürgermeister Michael Meyer-Hermann ging auf die Landung der alliierten Truppen in der Normandie ein, den sogenannten D-Day – ein leidvolles historisches Ereignis […]. Daneben kam der verlustreiche Aufstand im Warschauer Ghetto zur Sprache. Zwei Leser berichteten schließlich über die Entwicklungen des Jahres 1944 vor Ort, aus Sautmanns Buch zitierend. Damit war gleichsam der Auftakt zum Lesemarathon gesetzt.
Ein leerstehendes Ladengeschäft mitten im Stadtzentrum bot für die Veranstaltung einen idealen Raum. Hinreichend Platz, mit zeitgenössischen Exponaten dekoriert, optisch und akustisch alles bestens in Szene gesetzt: Der kleine Vorbereitungskreis um Anja Keppler und Inga Niemann-Delius hatte die temporäre Umnutzung des früheren Modegeschäfts M 1 perfekt arrangiert. Die Wahl lag nahe, weil das Gebäude im Zustand der 1930-er Jahre als Titelbild des Buches von Sautmann gewählt worden war. In zweimal zwölf Stunden wurde nun pausenlos gelesen, was sich als völlig reibungslos erwies. Nach vier Stunden endete der erste Durchgang. Die eher zufällige, aber glückliche Zeiteinteilung war damit gegeben. Die Zahl der Zuhörerinnen und Zuhörer schwankte. Zu später Stunde am Sonntag kamen erwartungsgemäß nur ganz wenige Gäste. Montagvormittag erschienen sechs Klassen, fünf aus dem Gymnasium und eine aus der hiesigen Sekundarschule. Internationales Fingerfood aus acht Ländern, von Afghanistan bis Polen, haben Frauen aus der Frauenschule Versmold, einem ehrenamtlich getragenen Deutschkurs des Ökumenischen Unterstützerkreises Asyl Versmold, vorbereitet und angeboten.
Dr. Richard Sautmann, der Autor des gelesenen Buches, starb am 7. November. Damit wurde der Lesemarathon auch zu einer Gedenkveranstaltung für ihn, was die zahlreichen Eintragungen in eine ausgelegte Kondolenzliste bekundeten. Seine letzte Geschichte von und für Versmold verstand er als Hoffnungsträger in einer Zeit der politischen Radikalisierung und zunehmender Geschichtsvergessenheit. ‘Dabei hilft uns der Blick in die Geschichte und insbesondere in die Geschichte vor Ort. Ganz altmodisch zeigt sie uns Wege und Irrwege im vertrauten Raum, sie mahnt, gibt uns zu denken, eröffnet neue Perspektiven und verbreitet letztlich Hoffnung. Und nur darum, nur um dieser Hoffnung willen, wurde dieses Buch geschrieben’, so lautet die Widmung auf dem Buchrücken. Am 31. Oktober 2024 verabschiedete Sautmann sich mit einer letzten Mail, den Lesemarathon mit seinem Buch betreffend: ‘Für eure Initiative kann ich nur dankbar sein und wünsche dem Projekt Glück und Erfolg’.
Dr. Richard Sautmanns reiches Leben wird weiterwirken. Für Versmold mit seiner Geschichte als Demonstration für die Demokratie.“
Fotos und Text: Dr. Rolf Westheider, Stadt Versmold