Meldungen aus dem Landesverband Nordrhein-Westfalen
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„Demokratinnen und Demokraten müssen Präsenz zeigen!“

Gedenken an den Novemberpogrom 1938 in Gelsenkirchen

Führten den Schweigemarsch an: Oberbürgermeisterin Karin Welge (r.) und Thomas Kutschaty (m.) Foto: Alexander Stahl


Gelsenkirchen. Wie seit fast sechs Jahrzehnten fand auch am 9. November 2023 in Gelsenkirchen eine Veranstaltung zum Gedenken an die Pogromnacht im Jahre 1938 statt. Auf Einladung der partei- und verbändeübergreifenden „Demokratischen Initiative Gelsenkirchen“ gingen rund 1.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer in einem Schweigemarsch vom Schloss Horst zum Friedhof Horst-Süd. An der dortigen Grabstätte für 150 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiterinnen sprachen die ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen, Judith Neuwald-Tasbach, die Gelsenkirchener Oberbürgermeisterin Karin Welge und der Vorsitzende des Landesverbandes NRW im Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., der Landtagsabgeordnete Thomas Kutschaty. In diesem Jahr stand die Gedenkstunde unter dem Eindruck des Überfalls der Hamas auf Israel, den folgenden antisemitischen Anfeindungen in ganz Deutschland und der Sorge um die Demokratie in Deutschland.

Mit starken kämpferischen, aber auch berührenden Worten begrüßte Judith Neuwald-Tasbach die Teilnehmenden. Das in den vergangenen Tagen allenthalben betonte „Nie wieder!“ versah sie mit einem Fragezeichen, denn zu wenig sei diese Parole in den vergangenen Jahren mit Leben gefüllt worden. Neuwald-Tasbach, Tochter von Holocaust-Überlebenden, berichtete sehr eindrücklich über das tragische Schicksal ihrer Familie, die zu großen Teilen während des Zweiten Weltkrieges von Nationalsozialisten und ihren Helfern ermordet wurde. Neuwald-Tasbachs Mutter gehörte zu jener Gruppe ungarischer Jüdinnen, die aus Siebenbürgen zur Zwangsarbeit nach Gelsenkirchen verschleppt wurden und dort einem Bombenengriff zum Opfer fielen.  Nur mit großem Glück und dank couragierter Helfer hatte sie schwer verletzt überlebt.

Angesichts der aktuellen Anfeindungen gegenüber Jüdinnen und Juden in Deutschland erinnerte Neuwald-Tasbach an die Ausgrenzung und propagandistische Herabwürdigung bis zur Entmenschlichung jüdischer Menschen durch die Nationalsozialisten, die zur Enthemmung und Gewaltbereitschaft großer Teile der Mehrheitsgesellschaft beitragen hat. Neuwald-Tasbach schlug von dort einen Bogen zum Terrorangriff der Hamas auf Jüdinnen und Juden in Israel, der ebenfalls durch enthemmte Gewalt und Brutalität gegenüber jüdischen Menschen gekennzeichnet war. Sie zeigte sich entsetzt darüber, dass hierzulande Menschen dazu applaudierten, und enttäuscht über verhaltende Solidaritätsbekundungen. Neuwald-Tasbach machte deutlich, dass Antisemitismus sich nicht nur gegen Jüdinnen und Juden richte, sondern gegen die Gesellschaft insgesamt und damit gegen alle Bürgerinnen und Bürger. Daher müsse das „Nie wieder!“ weiterhin Ziel aller demokratischen Kräfte sein.

Auch Thomas Kutschaty verurteilte die Anfeindungen gegen Jüdinnen und Juden als „zutiefst beschämend und unerträglich.“  Er stellte in seiner Ansprache fest, dass „der Jahrzehnte alte Grundkonsens des ‚Nie wieder‘ nicht mehr von allen Teilen unserer Gesellschaft mitgetragen“ werde. Kutschaty forderte von den Regierenden mehr Anstrengungen und finanzielle Mittel: „Wer im großen Maßstab bei der politischen Bildung kürzt, muss sich fragen lassen, ob er die Zeichen der Zeit verstanden hat.“ Er warb für mehr Engagement für Demokratie und sozialen Zusammenhalt der Bürgerinnen und Bürger.

Kutschaty ging auch auf die etwa 1.200 Kriegsgräber auf dem Friedhof Horst-Süd ein. Hier ruhen ungarisch-jüdische Zwangsarbeiterinnen, sowjetische und polnische Kriegsgefangenen, bei Bombenangriffen getötete Gelsenkirchener Bürgerinnen und Bürger und deutsche Soldaten beider Weltkriege. Gemeinsam mit der Stadt Gelsenkirchen hat der Volksbund hierzu eine Informationstafel erneuert. „Vom 30. Januar 1933 über den 9. November 1938 bis zu diesen Gräbern, an denen wir hier stehen, dauerte es nur 12 Jahre.“ Daran zu erinnern sei wichtig, „gerade jetzt, wo Jüdinnen und Juden wieder angefeindet und ausgegrenzt werden.“

Oberbürgermeisterin Karin Welge forderte in einer mitfühlenden und eindringlichen Rede dazu auf „unserer Geschichte ins Gesicht zu blicken“ und Haltung gegen Antisemitismus zu zeigen. Am 9. November 1938 seien Gelsenkirchener Jüdinnen und Juden auch von ihren eigenen Nachbarn drangsaliert und entwürdigt worden. Sie stellte fest, dass Ausgrenzung und Gewalt eine „Grunderfahrung jüdischer Geschichte“ sei, die bis heute anhalte: „Wir stehen vor der bitteren Erkenntnis, was der Antisemitismus noch immer vermag – und dass es das noch immer gibt: Pogrome. Und dass es eine Linie gibt, die den 9. November 1938 mit dem 7. Oktober 2023 verbindet.“

Welge zeigte sich erschüttert darüber, dass viele Menschen trotz des brutalen Terror-Angriffs der Hamas nicht für sondern gegen die Opfer Partei ergriffen. Sie sprach dabei den Antisemitismus in muslimisch-migrantischen Milieus an, wies aber gleichzeitig auf zunehmende Wahlerfolge einer Partei hin, die in weiten Teilen als rechtsextremistisch gilt: „Nur einen Tag nach dem Pogrom der Hamas haben große Anteile der Wählerinnen und Wähler in Bayern wie in Hessen nichts dabei gefunden, ihr Kreuz bei einer rechtsextremen Partei zu machen – bei einer Partei, die nichts, aber auch gar nichts auf die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit gibt!“

Welge warnte: „Antisemitismus spricht immer Menschen menschliche Züge und Rechte ab und ist eine Vorab-Rechtfertigung von Gewalt!“ Es gelte, dass „Wir-Gegen-Die-Spiel der Populisten und Rechtsextremisten, der Islamisten und Identitätspolitiker“ zu unterlaufen – durch Bildungsarbeit, aber auch durch Diskussionsbereitschaft.

Allen Reden gemein war die Sorge um die Demokratie angesichts des aktuellen Zulaufs zu rechtsextremistischen Parteien und radikal-islamistischen Bewegungen; allen gemein war aber auch die Aufforderung, sich dieser Herausforderung zu stellen, gegen Antisemitismus und Extremismus einzutreten, sich für Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhang einzusetzen. Oberbürgermeisterin Welge: „Wir Demokratinnen und Demokraten müssen Präsenz zeigen.“

Stefan Schmidt